Memento Mori: Der Friedhof Père Lachaise


Gang über den schönsten Friedhof der Welt

 

Es ist ein sonniger Morgen im August, als die Freundin und ich durch den Haupteingang am Boulevard de Ménilmontant die größte Totenstadt von Paris besuchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Friedhof errichtet, der heute ungefähr eineinhalb Millionen Gräber beherbergt. Benannt wurde er nach dem Jesuiten Pater François d’Aix de Lachaise, der 100 Jahre zuvor auf dem Gelände gelebt hatte. Auf einer Karte sind die Gräber der Berühmten verzeichnet, wie auf einem Stadtplan. Die Wege zwischen den Gräbern tragen Namen.

La cité des morts

Vogelgezwitscher und Stille. Ab und an fällt ein welkes Blatt, das an den nahenden Herbst erinnert. Wir schlendern durch die breiten, gewundenen Alleen mit ihrer ganz eigenen Architektur, vorbei an überdimensionalen Grabmalen und trauernden Engeln, all das, was Nachfahren geschaffen haben, um die Toten nicht zu vergessen. Hier in dieser ruhigen Parklandschaft dürfen nur Pariser begraben werden, oder Menschen, die in der Stadt gestorben sind.

An der Hauptstraße der Stadt der Toten finden wir das schlichte Grab der Schriftstellerin Colette. Als sie 1954 starb, hat ihr Wohnungsnachbar im Palais Royal, Jean Cocteau, sehr getrauert. "Ici repose Colette" steht in Goldschrift auf einem schwarzen, glattpolierten Stein. Zugedeckt ist sie mit einer graugesprenkelten Grabplatte, auf der neben einigen welken Blättern rote Rosen in Plastik eingehüllt liegen. Seit über 60 Jahren ruht sie bereits hier, so wie sie es gewünscht hatte: "in den steinernen Armen des Père Lachaise."

Wir gehen weiter auf buckligen Wegen, steigen über Treppen, schauen rechts und links und suchen nach bekannten Namen. Viele Grabstätten sind verfallen, die Steine zerbrochen und moosüberwachsen. Weithin sichtbar das verzweifelte Bemühen der Lebenden, den Toten ein würdiges Denkmal zu setzen. Ein Mann in Soldatenkluft ist auf seiner Grabstätte lebensgroß nachgebildet: der Journalist Victor Noir, der im Jahr 1870 von dem Prinzen Pierre Napoleon erschossen - und freigesprochen wurde. Vielleicht hatte ihn Günter Kunert im Sinn, als er sein Gedicht "Père Lachaise" schrieb: "Den Rest von Natur hütet der Tod: Gegen gefügten Granit revoltiert das Grün aller Zeiten ... Eine Bronzeskulptur: auf den Rücken gestreckt wie das Original."

Es ist still in diesem großen Gelände. Licht fällt in durchsichtigen Strahlen durch die Blätter der Bäume, Schattenbilder entstehen. Man hört Vogelgezwitscher. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Ab und an werfen wir durch die Statuen und Grabsteine hindurch einen Blick auf die Stadt.

Der Tod macht vor niemandem Halt. Da liegt ein steinernes Kind auf dem Grab, behutsam zugedeckt, die Augen geschlossen. Unweit davon das Grab von Claude Chabrol, dem Filmemacher, der 80 Jahre alt wurde.

Ein neueres Grab sticht uns ins Auge: Das des 57jährigen Karikaturisten Bernard Verlhac, genannt Tignous. Er arbeitete für das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" und wurde von islamistischen Attentätern ermordet.  Die Täter drangen während einer Redaktionssitzung in die Büroräume ein und schossen ihren Opfern gezielt in den Kopf. Insgesamt 17 Menschen starben damals bei diesem und einem weiteren Überfall. Die drei Täter wurden danach von der Polizei getötet. Die Ereignisse im Januar 2015 haben die ganze Welt bewegt. Es gab zahlreiche Solidaritätsbekundungen. Je suis Charlie, lautete der Slogan. Das Satiremagazin hat überlebt und setzt immer wieder Zeichen für den Mut, dem Trauma zu trotzen und die Meinungsfreiheit bis aufs Letzte zu verteidigen und somit den Getöteten posthum Ehre zu erweisen.

Das Attentat auf Mitglieder der französischen Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Jahr 2015 ist inzwischen literarisch intensiv verarbeitet worden. Am bekanntesten: Philippe Lancon "Der Fetzen". Der Journalist wurde durch eine Kugel in den Unterkiefer schwer verletzt. Das Schreiben bedeutete für ihn eine Überlebensstrategie. »Ich war einer von ihnen, aber ich war nicht tot.«

Auch daran denken wir an diesem friedlichen sonnigen Tag im August 2017. Kommt man nicht hierher, um über das Leben und das Sterben nachzudenken? Der Tod ist im Französischen weiblich, fällt uns auf: La mort.

Stundenlang streifen wir in dieser gigantischen Totenlandschaft herum. Schließlich gelangen wir an das Grab von Gertrude Stein. Nur ihr Name steht darauf in goldenen, verblichenen Lettern. Ein dürrer Rosenstock kämpft mit dem Unkraut. Ihr berühmter Ausspruch Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ... wurde zu Tode zitiert. Hemingway, der oftmals in Gertrude Steins Salon in der Rue de Fleurus zu Gast war, lässt seinen Helden Jordan in "Wem die Stunde schlägt" sagen: Ein Stein ist ein Stein ist ein Fels ist ein Felsblock ist ein Kiesel. Auf den Grabstein haben Besucher Kieselsteine gelegt. Auf der Rückseite ist der Name von Steins Lebensgefährtin Alice B. Toklas eingraviert.


Das pompöse Grab von Frederic Chopin, der 39jährig an einer Tuberkuloseerkrankung starb, ist nur eine Erinnerungsstätte. Man hat den Pianisten, dessen Herz nicht von seiner polnischen Heimat loskam, nach seinem Tode wieder in seine Heimatstadt Warschau gebracht. Er war zeitweise der Geliebte der Schriftstellerin George Sand, mit der er einen Winter auf Mallorca verbrachte. Diesen Winter hat sie in einem Buch unsterblich gemacht.

Die Grabstätte von Marcel Proust schmückt eine schlichte schwarze Marmorplatte - nichts verweist auf die Extravaganz des Dichters, der unzählige Stunden in abgedunkelten, von der Außenwelt abgeschotteten Räumen verbrachte - um die verlorene Zeit einzufangen. Wie kein anderer beschrieb er, wie das Eintauchen eines Madeleine-Küchleins in Lindenblütentee eine Kindheitserinnerung wachwerden ließ an einen Ort, den er Combray nannte, der aber in Wirklichkeit Illiers hieß - und der sich heute Combray-Illiers nennt. Eine Hommage an den großen Dichter, der versuchte, durch Worte wunderbaren Glücksgefühlen auf den Grund zu gehen.
"Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen, der Besitz zieht alle Dinge in den Staub. Besser sein Leben träumen als es leben", schrieb er einst.

Das Grab von Edith Piaf ist - wie bei unserem letzten Besuch - von Menschen umringt. Es ist immer voller Blumen. Ein Rosenstrauß in Plastikfolie liegt auf der polierten Steinplatte mit dem ans Kreuz geschlagenen Jesus. Es ist das Grab der "Familie Gassion". Für die Behörden trägt sie den Namen ihres letzten Ehemannes Theo Lamboukas. Den zwanzig Jahre jüngeren Griechen hatte sie ein Jahr vor ihrem Tod geheiratet. Er wurde Jahre später ebenfalls an dieser Stätte beerdigt, genau wie ihr Vater. An der Seite ist eingemeißelt: "Madama Lamboukas, dite Edith Piaf, 1915-1963. Ihr Chanson Non, je ne regrette rien klingt uns in den Ohren.

Auch vor Oscar Wildes Grab drängen sich einige Besucher. Die graue, grobflächige Statue auf seinem Grab stellt eine überlebensgroße, geflügelte Sphinx mit den Zügen des Dichters dar. Früher zierten viele Lippenstiftabdrücke die Statue, heute hat man zum Schutz eine Glasplatte davor montiert. Der irische Schriftsteller, dessen bekanntestes Werk "Das Bildnis des Dorian Gray" die irdische Vergänglichkeit eindringlich thematisiert, ist 46jährig nach einer Operation in dem Pariser Hotel d´Alsace gestorben. Alles, was ich weiß, ist, dass man das Leben nicht verstehen kann ohne viel Güte, dass man es nicht leben kann ohne viel Güte, lautet einer seiner zahlreichen Aphorismen.

Die Zeit verfliegt. Ewig könnten wir weiterschlendern und zwischen den steinernen Monumenten auf Entdeckungstour gehen, doch der Friedhof ist zu groß, um alles zu sehen.

Die Freundin sieht mich an und zitiert: "Und wenn du dich getröstet hast, (man tröstet sich immer) wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst dich daran erinnern, wie gerne du mit mir gelacht hast."
Worte, die Antoine de Saint-Exupéry schrieb. Für ihn, der im Juli 1944 unter mysteriösen Umständen während eines Aufklärungsflugs über dem Meer verschollen ist, gibt es kein Grab. Nur das in unseren Herzen.