In den Vogesen: Das KZ Natzweiler-Struthof

 

60 Kilometer von Straßburg entfernt, am Nordhang des Mont Louise in den Vogesen, befand sich der von Elsässern beliebte Wintersportort Struthof. Nachdem die Nazis den Elsass annektiert hatten und dort eine Germanisierungs- und Nazifizierungsstrategie durchführten, wurde hier am 1. Mai 1941 das Konzentrationslager Natzweiler offiziell eröffnet. Ein SS-Geologe war im Berg Louise auf Vorkommen von rosa Granit gestoßen, der von KZ-Insassen abgebaut werden sollte. Man wollte diesen besonderen Stein zur Erschaffung des tausendjährigen Reiches nutzen.

Sommer 2023

Weit oben in den Vogesen, nach sehr vielen engen Serpentinen, die sich immer höher den Berg hinaufwinden, befindet sich die Gedenkstätte Struthof-Natzweiler. Die Gegend scheint menschenleer. Es ist ein sonniger Tag, die Vögel zwitschern, der Himmel ist blau, ringsum blüht der Ginster und lässt einen fast vergessen, welches Leid die Menschen hier vor 80 Jahren ertragen mussten.

Nekropolis: In seiner "poetischen Gedächtniskunst" beschwört Boris Pahor Erinnerungsversuche herauf. Der slowenische Autor hat in den frühen sechziger Jahren einige Lager-Gedenkstätten besucht, in denen er während des Krieges interniert war, darunter auch Natzweiler.

"Diese Touristenblicke, dessen bin ich mir unbeirrbar bewusst, werden nie in die abgrundtiefe Verworfenheit eindringen können, mit der unser Glaube an die Würde des Menschen und an seine persönliche Entscheidungsfreiheit Lügen gestraft wurden", schreibt er in seinem autobiografischen Erinnerungsbuch. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller ist im Mai 2022 108jährig gestorben.

Der Eingang

"Die Holztür ist mit Stacheldraht bespannt und geschlossen wie damals; alles ist unberührt, nur die Wachen in den hölzernen Türmen fehlen", schreibt Pastor über das "Vorzeigen unseres Sterbeortes" und lässt in seinen jetzigen Besuch die damaligen Schreckensbilder einfließen: "Damals streckten sich die Treppen vor uns empor wie ein Glockenturm; die Terrassen wollten nie enden, und wir brauchten eine ganze Ewigkeit, um zur Spitze des senkrechten Turmes zu kriechen, auch deswegen, weil trotz der ausgedörrten Beine unsere Fußsohlen durch die Ödeme zu Klötzen aus weißem Fleisch geworden waren."

Ich gehe durch das Eingangstor. Das Gelände ist terrassenförmig angeordnet, hohe, unregelmäßige Treppenstufen führen von einer Ebene zur anderen, was sehr beschwerlich zu überwinden ist, insbesondere, wenn man bedenkt, wie geschwächt die Insassen in ihren gestreiften Jacken und den Holzpantinen waren.

"Der Liegende"

Die Bronzestatue am Eingang zum Gelände stellt den entblößten und ausgemergelten Körper eines Deportierten dar.

Was mussten die Menschen hier durchleben und durchleiden, genau hier, wo ich heute entlangspaziere. Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, als ich die Baracke mit dem Museum betrete, darin deistöckige Pritschenbetten. Hier drängten sich zahllose Menschen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen - viele von ihnen krank und geschwächt.

Hinter Glasvitrinen ist die gestreifte Häftlingskleidung ausgestellt, die zerlumpten Schuhe, das zerbeulte Essgeschirr. All dies Sichtbare kann nicht wirklich wiedergeben, wie Menschen versuchten, unter unmenschlichen Bedingungen einfach nur zu überleben - in der Hoffnung, dass ihr Leid irgendwann einmal zu Ende sein musste. Denen Angst eine tägliche Begleiterin war.

Wieder einmal schäme ich mich, einem Volk anzugehören, das verantwortlich war für diese Unmenschlichkeit.

Der Besuch in Buchenwald ist mir noch deutlich in Erinnerung. Das Lager Natzweiler ist nicht so weitläufig wie Buchenwald, aber wie alle KZs umzäunt von Stacheldraht, dazwischen hölzerne Wachtürme. Auch hier war es fast unmöglich, zu flüchten. Weit sichtbar von überall her der Galgen.

Im Lager gab es zwei Galgen. Hier wurden Hinrichtungen direkt und vor den Augen der Deportierten durchgeführt, die gezwungen waren, zuzuschauen. Die Erhängung, die Weihnachten 1943 stattfand, hat besondesrs tiefe Narben hinterlassen, heißt es im "Leitfaden für Besucher". "Der Verurteilte, ein deutscher Deportierter, der Anfang Dezember im Lager angekommen war, hatte eines Abends vor den auf dem Appellplatz im Licht der Scheinwerfer versammelten Deportierten von vier SS-Leuten bereits 100 Stockschläge erhalten. Halbtot wurde er in den Zellenblock gebracht, aus dem er erst am Weihnachstag wieder herauskam, um gehängt zu werden. Kommandant Kramer und seine Adjutanten rauchten neben dem Galgen stehend eine Zigarre."

Bevor die Nazis kamen, war "Le Struthof" auf dem Berg Louise in malerischer Landschaft auf der einstigen Rodelpiste gelegen ein hübscher und komfortabler Gasthof, der zu erschwinglichen Preisen Elsässern aus der Großstadt Erholung bot. Unter der Kommandantur von Josef Kramer (1906-1945) wurde im April 1943 zu Versuchszwecken eine Gaskammer in einem Nebengebäude, dem Festsaal des ehemaligen Gasthauses eingerichtet. Im August 1943 ließ er 86 aus dem KZ Auschwitz überstellte Gefangene dort vergasen, um Prof. August Hirts "Schädel- und Skelettsammlung" an der Reichsuniversität Straßburg zu vervollständigen. Kramer war Leiter dieser Mordaktion. Dem Todeskampf der Opfer sah er durch ein Fenster zu. Im Frühjahr 1943 war er mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden. Am 17. November 1945 wurde er zum Tode durch den Strang verurteilt. Zuvor plädierte er wie alle anderen Angeklagten auf „nicht schuldig“.


Die Gaskammer wurde auch von dem deutschen Professor Otto Bickenbach (1901-1971) für seine Experimente an Menschen mit dem Giftgas Phosgen benutzt, das zu einer Verätzung des Lungengewebes führt. Die Mehrzahl der Opfer waren Sinti und Roma.

"Die Todesschmiede": Das Krematorium, "der Schornstein mit der blutigen Tulpe an der Spitze". "Man hatte sich in den langen Monaten an den Schornstein und an den Geruch gewöhnt, mit dem die Luft durchtränkt war", schreibt Boris Pahor in Nekropolis.

Der Verbrennungsofen

In dem großen vierkantigen Kessel, der auf dem Ofen angebracht ist, wurde das Wasser für das Bad aufgewärmt. Als Pahor hört, wie der Touristenführer dies den Besuchern erklärt, erkennt er schlagartig, "dass mir damals nicht bewusst war, womit der Wärter der Wasser erhitzte". Dabei fühlt er sich als ein "Gezeichneter".

Im Lager wurden pseudo-medizinische Versuche durchgeführt: Versuche zu Sulfonamiden, Kampfgas (Senfgas und Phosgen) und Typhus. Die Nationalsozialisten strebten auch den Aufbau einer anatomischen Sammlung jüdischer Skelette an. Durch die Vergasung ist es möglich, unverletzte Skelette zu erhalten.

Der Seziertisch: Hier führten Professoren aus Straßburg Vivisektionen und bakteriologische Tests durch.

An diesem Tisch mit den vergilbten Fliesen nahmen die Professoren Hirt, Bickenbach und Haagen von der Reichsuniversität Straßburg ihre fragwürdigen medizinischen Experimente an menschlichen Opfern vor.
Prof. August Hirt (1898-1945) war ein international anerkannter Anatomie-Professor, der 1933 in die SS und 1937 in die NSDAP eintrat.
Seine große Stunde schlug Ende 1941, als er Leiter des Anatomischen Instituts der neugegründeten Reichsuniversität in Straßburg wurde. Es war nicht nur sein Traum, sondern auch jener der ganzen nationalsozialistischen Führungsriege, in Straßburg eine deutsche Universität zu installieren - schliesslich hatte hier einst Goethe studiert. Ab November 1942 führt Hirt - "einer der grausamsten Nazi-Ärzte" - Experimente an Versuchspersonen im Konzentrationslager Natzweiler durch. Kurz vor dem Angriff der Alliierten tauchte er unter. Als die englische Zeitung «Daily Mail» von seinen Verbrechen berichtete, erwiderte er in einem Schreiben, er habe weder Menschenversuche durchgeführt, noch sei die Gaskammer eine Gaskammer gewesen, sondern ein Entlausungsraum. Er beging am 2. Juni 1945 im Schwarzwald Selbstmord.

Prof. Eugen Haagen (1898-1972) war Assistenzarzt an der Berliner Charité und hat ab 1933 für das Reichsgesundheitsamt gearbeitet. Seine Entdeckung eines Impfstoffs gegen Fleckfieber brachte ihm 1936 eine Nominierung für den Nobelpreis ein. Im Lager impft er Deportierte mit dem Fleckfieber Erreger, um einen noch wirksameren Impfstoff gegen diese Krankheit zu entwickeln. Nach Inhaftierung wurde er als Zeuge für den Nürnberger Ärzteprozess abgestellt und wurde im Januar 1947 nach Frankreich ausgeliefert. Im Dezember 1952 wurde er zusammen mit Otto Bickenbach vor dem Militärgericht in Metz angeklagt. Beide wurden zu lebenslanger Zwangsarbeit wegen „Verbrechens der Anwendung gesundheitsschädlicher Substanzen und Giftmord“ verurteilt. Beide wurden jedoch bereits 1955 amnestiert. Haagen starb im August 1972 in Berlin.

 

Die Kommandatur-Villa

Hier war der Sitz der Kommandantur. Es war eine 1940 von den Nazis requirierte Privat-Villa. Sie wurde kurz vor dem 1. Weltkrieg erbaut und gehörte einer Straßburger Bankiersfamilie.

Unterhalb liegt der ehemalige Gemüsegarten der SS. Was mich am meisten entsetzt: Das Gemüse wurde gedüngt mit der Asche der Toten.

Zentraler Ort der Erinnerung

Im September 1944 evakuierten die Nationalsozialisten das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Wenige Wochen später wurde es von den Alliierten entdeckt. Vorübergehend, von 1945 bis 1948, diente das Stammlager des einstigen KZ-Komplexes Natzweiler als französisches Gefängnis.

Man hat das Lager in einen zentralen Ort der Erinnerung an die Leiden der Opfer der Nationalsozialisten umgestaltet. Es wurde mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel bedacht, (englisch European Heritage Label, französisch Label Patrimoine Européen) eine staatliche Auszeichnung für Kulturdenkmale, Kulturlandschaften oder Gedenkstätten, die auf europäischer Ebene als bedeutend erachtet werden.

Bei seiner intensiven Beschäftigung mit dem Lager Struthof stieß der Historiker Robert Steegemann an die Grenzen des Erklärbaren: «Denn Vorgänge wie diese sind rationell kaum fassbar. (…) Angesichts der unfassbaren Verbrechen jeder ausgewiesenen Koryphäen ihres Fachs kann sich der Historiker fast nur noch auf die Kerntätigkeit seines Berufes zurückziehen und Fakten zusammenstellen.»

Robert Steegemann: Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und seine Außenkommandos an Rhein und Neckar 1941–1945