Juist - Töwerland

Im Rahmen des Stipendiums "Tatort Töwerland" werden jedes Jahr bis zu vier Krimi-Autoren zu einem 14tägigen Aufenthalt auf die Nordseeinsel Juist eingeladen. Die Idee stammt von der Krimi-Autorin Sandra Lüpkes und dem Insel-Buchhändler Thomas Koch. Im September 2012 war ich eine der Glücklichen, die zwei Wochen auf der autofreien nordfriesischen Insel verbringen durfte. Eine wunderbare, friedliche Zeit.
Töwerland - das heißt so viel wie Zauberland  - so wird die Insel Juist von den Einheimischen genannt und auch:  "Die schönste Sandbank der Welt".  
Während meines Aufenthaltes habe ich mein Roman-Manuskript "Vulkanpark" überarbeitet. Eingang gefunden haben Spuren dieser Zeit auch in den Folgeband "Goldschiefer".

 

Auszüge aus dem Inseltagebuch Juist
(8. - 22. Sept. 2012)

Ankunft mit dem Vorschiff

Die Bahn erreicht pünktlich Norddeich Mole. Dann 1 ½ Stunden Weiterfahrt mit der Frisia über die Nordsee. Die Sonne hat in diesem Spätsommer noch viel Kraft. Möwen begleiten das Schiff. Eine besonders fette lauert auf Essbares, doch es gibt nichts. So viele Leute und nichts zu futtern ...

Eigentlich sollte die Fähre erst in einer guten Stunde gehen, doch an Tagen mit viel Betrieb wird ein Vorschiff eingesetzt. Ich komme also vor der verabredeten Zeit an und überlege, wie ich mich mit Thomas Koch in Verbindung setzen könnte, der mich an der Anlegestelle abholen will. Doch auf der Insel  lernt man mit den Gegebenheiten umzugehen. Das Tuten des Schiffes kündigt uns an - und ich werde bereits erwartet.

Autos gibt es auf der Insel nicht. Also auch keine Taxis, nur Kutschen und viele Fahrräder. "Sie haben doch Beine bis zum Boden", sagt Thomas Koch, nimmt meinen Koffer, lädt ihn in seinen Fahrradanhänger und begleitet mich bis zur Villa Charlotte in der Wilhelmstraße. Hier im Haus der Familie Extra logiere ich fortan im Autorenzimmer.

Hufgetrappel und Möwengeschrei

Mein Zimmer liegt im Erdgeschoß. Die ersten Geräusche am  Morgen: Pferdegetrappel und die Schreie der Möwen - und keinerlei Autolärm.

Juist-Buch

Die kleine Buchhandlung in der Friesenstraße ist so richtig was zum Stöbern. Neben einem Dutzend Ansichtskarten für meine Lieben daheim kaufe ich den von Buchhändler Thomas Koch und Jan Zweyer herausgegebenen Band "Tot auf Töwerland", in dem vorherige Stipendiaten ihre kriminellen Fantasien zum Besten geben.

Strandspaziergang

Ich schlendere barfuß durch den Sand, weil ich meinen Füßen etwas Gutes tun will. Die Flut kommt zurück, man muss aufpassen, weil alles so schnell vonstatten geht.  Ich erinnere mich an all die Warnungen über Meer und Tide, die ich im Laufe meines Lebens gehört und gelesen habe. Niemals zu weit hinausgehen, weil  sich die Priele langsam und fast unmerklich mit Wasser füllen. Im Sand hat das Meer Überbleibsel hinterlassen. Stabmuscheln und Herzmuscheln, viele spitze Fragmente, denen ich ausweiche. Kleine Quallen, Tang. Überall Spuren der flinken Strandläufer, die ihre Abdrücke in das Watt gekrallt haben. Am Himmel ein krächzendes Rabenpaar, das sich vom Silber der Möwen abhebt.

Ich atme die salzhaltige Luft ein, setze mich in die Dünen zwischen Strandhafer, schreibe Ansichtskarten und beobachte das Herannahen und Sich-wieder-Entfernen des Wassers.

Ein Weihnachtslied im September

Auffällig sind die Apfelrosen- und Sanddornhecken, die die Wege säumen. Auf dem Rückweg zur Villa Charlotte höre ich schon von Weitem das Kurkonzert. Ich setze mich auf einen freien Platz und lausche den älteren Herren, die hier aufspielen. Ein Medley. Oh, when the Saints go marchin´in … Ich stutze, als ich die Melodie von jingle Bells erkenne. Ob die Herren sich da vertan haben? Ein Weihnachtslied im September ...

Juist-Lektüre

Im Bücherregal der Villa Charlotte findet sich viel Juist-Lektüre. Sandra Lüpkes, die früher im Haus gegenüber gewohnt hat, hat etliche Juist-Bücher geschrieben. Einige davon kenne ich. Die Inselvogtin fällt mir in die Hände. Ein historischer 400-Seiten-Wälzer, der einiges über Juists Geschichte erzählt. Das Buch beginnt mit der verheerenden Weihnachtsflut von 1717, bei der viele Menschen ertrunken sind. Die Atmosphäre erinnert mich ein bisschen an Charlotte Brontës Jane Eyre.

Räuberische Silbermöwen

Allmählich erfahre ich mehr über die Insel: Die Segel-Skulptur an der neuen Seebrücke nennen die Einheimischen "Zitronenpresse". An dem einem Ende der Insel, die nur 17 km lang und 500 m breit ist, liegt das Bill und am anderen Ende der Flugplatz. Rund  1.800 Menschen leben auf Juist. Beziehungen zwischen Inselbewohnern und Menschen vom Festland gestalten sich schwierig, da die Fähre nur bei Hochwasser fahren kann - und das ist in der Regel nur einmal am Tag der Fall. Inseltypische Worte sind: Salzwiesen, Apfelrosenhecken, Moin. Wer "Moin Moin" sagt, gilt schon als geschwätzig, erzählt Inka Extra schmunzelnd beim Frühstück.

Ich erfahre weiter, dass viele Möwen zur Nachbarinsel Memmert abgewandert sind, worüber man sehr froh ist, weil Silbermöwen Raubvögel sind. Inka erteilt die Warnung: Nie etwas zu essen in der Hand halten, wenn Möwen in der Nähe sind. Die holen es sich, schneller als man gucken kann.

Die Domäne Bill

Nachmittags ist eine Kutschenfahrt zum Bill angesagt. Domäne Bill heißt ein Café, das ist unser Ziel. Unterwegs bläst es ordentlich. Die Insel verändert sich ständig durch Wind, Sand und Wasser. Wir sehen Fasane. Oben am Billriff wage ich einen Rundgang. Allein. Ein riesiger weißer Sandstrand liegt vor mir, der menschenleer ist. Bevor mir unheimlich wird, weil der Stand kein Ende nimmt und ich nicht weiß, wie weit es zurück zum Café ist, frage ich zwei Leute, die mir entgegenkommen. Sie meinen: "Das ist noch ein Stück." Ich beeile mich. Es ist ein Halbrund, das ich gelaufen bin, sicher eine Stunde lang, bis ich endlich rechts in den Dünen einen orangefarbenen Pfeil sehe, der den Weg markiert.
Als ich die Düne erklommen habe, sehe ich das Café, die wartende Kutsche und die bekannten Gesichter. Ich habe es rechtzeitig zurück geschafft!

 Die Spelunke

Abends bin ich mit Thomas Koch und meiner Kollegin Mara Laue, eine weitere Stipendiatin, in der urigen Kneipe "Spelunke" verabredet. Wir sitzen am runden Tisch in der Ecke, beäugt von einem hölzernen Piraten.


Thomas wirkt etwas erschöpft. Gerade ist das von ihm mitorganisierte Krimifestival zu Ende, er spielt Theater und tanzt in der Volkstanzgruppe. Und morgen muss er früh in den Buchladen. Seine Mitarbeiterin ist krank.  
Ich freue mich auf die Vorstellung im "Haus des Kurgastes" am Montag, wenn Inka Akkordeon spielt und Thomas tanzt.

Wetterumschwung

Das Wetter hat umgeschlagen. Es ist trüb und kühl und ich brüte offenbar eine Erkältung aus. In der Drogerie kaufe ich außer Halstabletten einige Teetassen, die mich zu Hause an Juist erinnern werden. Der Himmel wechselt ständig seine Farbe, dicke Quellwolken ziehen über uns hinweg.

Im "Haus des Kurgastes" entdecke ich den Lesesaal mit vielen, vielen Zeitschriften, ein Mekka für mich. Dass man sich in so einem Saal leise verhält, sollte allgemein bekannt sein, aber es kommen etliche Paare, die ihre Gespräche hier einfach fortsetzen. Dinge, die niemanden interessieren, werden hier lauthals geäußert: "Wo hab ich das denn hin?" - "In der Tasche, nein im Mantel." - "Ach da ist es ja." -  "Willst du eine Banane? Ja?" Es wird seelenruhig eine Banane ausgepackt. Geschält und gegessen.

Aufregung

Jeden Tag bin ich mindestens einmal am Meer. Es ist ja nicht weit weg. Am Meeressaum ist die Luft am Gesündesten, hat man mir gesagt. Da sind die Aerosole am stärksten. Das kann ich jetzt gut gebrauchen wegen meiner Erkältung. Ich marschiere am Strand entlang, plötzlich ertönt ein entsetzter Schrei. Ein Mann fuchtelt mit den Armen, ruft nach seiner Frau, die weiter weg im Wasser steht. Sie ist offenbar in ein Wasserloch geraten - in voller Montur. Wissen die nicht, wie tückisch das Meer ist? Dass die Priele um einen herum schnell volllaufen? Die Frau hat offensichtliche Schwierigkeiten, sich aufzurappeln, taucht immer wieder ab. Zwei Mädchen von den Wachtürmen kommen herbeigeeilt. Die Leute gucken. Die Frau schafft es schließlich aus dem Wasser und geht auf eine Sandbank zu. Sie ist klatschnass.

Inka und ihre Anekdoten

Morgens beim Frühstück unterhält Inka gern die Gäste. Erzählt vom Notarztwagen - einem der wenigen erlaubten Fahrzeuge - der eine Zeitlang  täglich vor der Tür steht. Am Anfang hat sie sich Gedanken gemacht: Wer in ihrer Nachbarschaft braucht wohl ständig den Arzt? Schließlich hat sie den Grund herausgefunden: Der Inselarzt geht nebenan regelmäßig eine Pizza essen.
Die Nachbarinseln Norderney und Juist sind sich nicht gerade in inniger Freundschaft verbunden. Ein Fußballspiel gegen die Rivalen könnte friedenstiftend wirken. Doch das Inselderby ging für die Juister nicht gut aus. Ein Spruch blieb übrig: "Über Norderney lacht die Sonne, über Juist die ganze Welt."
Inka und die Gäste lachen ebenfalls.

 

Inselkino

Von diesem liebenswerten Kino mit seinen besonderen Serviceleistungen schwärmen alle. Im "Filmtheater mitten im Meer" sehe ich mir Best Marigold Hotel mit Judy Dench an, ein netter Film übers Outsourcen von Senioren. Altbekannte Wahrheiten, nett verpackt. Und ein quirliges Indien, das mich an meine Yoga-Lehrerin zu Hause erinnert, die uns viel von ihrem Land erzählt hat.

Mit dem Fahrrad zum Küstenmuseum

Heute habe ich mir ein Fahrrad ausgeliehen und bin zum Loog gefahren, dem zweiten Ortsteil von Juist.  Nach dem Schietwetter der letzten Tage hat sich das Wetter beruhigt, es scheint überwiegend die Sonne.

Ich gehe ins Küstenmuseum, das viel über die Insel erzählt. Dort erfahre ich, dass früher der Badestrand in Herren- und Damenbad unterteilt war. Merkwürdiges Strandgut ist da ausgestellt:  Z.B. eine Flasche mit Rattenschwänzen, die angeschwemmt wurde. Rattenschwänze? Nun, es gab damals  viele Ratten an Bord der Schiffe, und wenn die Matrosen welche getötet hatten, gab es Prämien - die Schwänze waren der Beweis.

Sagt Mutter, ´s ist Uwe

Das Gedicht Nis Randers von Otto Ernst sticht mir ins Auge. Ein Wiedererkennen!

Krachen und Heulen und berstende Nacht ...
Das haben wir früher in der Schule durchgenommen. Bei etlichen Zeilen klingelt es.
Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
Die menschenfressenden Rosse daher ...
Schließlich der Aufschrei: "Sagt Mutter, 's ist Uwe!"

Für einen Moment bin ich wieder zwölf Jahre alt, meine Haare sind zu Zöpfen geflochten, ich sitze in einer Bank meiner Dorfschule und sage das Gedicht auf.

Der Friedhof

Der Friedhof neben der Inselkirche existiert bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Zufällig entdecke ich dort das Grab von Hilke Rosenboom. Die Stern-Journalistin und Autorin ist hier auf Juist geboren. 2008 ist sie plötzlich verstorben. Sie stammte aus einer uralten Seemannsfamilie.

Lesung im Atlantic

Abends findet meine Lesung in der Shisha Lounge des Atlantic Hotel statt. Es wurden etliche Bücher verkauft, die ich signieren durfte. Hinterher gab es noch eine lebhafte Diskussion mit den Anwesenden. Mit einem guten Gefühl ging ich zurück in die Villa Charlotte.

Inselabend und Line Dance

Beim Inselabend im "Haus des Gastes" spielt Inka Akkordeon, Thomas tanzt in der Volkstanzgruppe. Der Shanty-Chor singt Seemannslieder. Ein sehr kurzweiliger, vielseitiger Abend. Eine Überraschung für mich sind die Line-Dancer. Sie tanzen etliche mir bekannte Tänze. Bei Irish Stew, Canadian Stomp und Chattahoochee hätte ich gern mitgetanzt.

Die Dorfschule

Das rote Backsteinhaus der Inselschule liegt zwischen Dünen versteckt.  Schulleiter Gerrit Schlauwitz hat mich in eine Deutschstunde eingeladen. Ich erzähle den sehr interessierten Kindern von meinem Alltag als Schriftstellerin. Auch sie stellen die Frage, die ich am meisten zu hören bekomme: "Können Sie vom Schreiben leben?" Vom Schreiben allein nicht, muss ich zugeben.

Das Lütje Teehuus

Hier muss man einfach gewesen sein: Versteckt im Januspark liegt das kleine rote Backstein-Häuschen, das liebevoll eingerichtet ist. Friesisch Blau-Weiß dominiert . Im Kamin prasselt ein Feuer. Selbstverständlich gibt es hier Ostfriesentee mit Wölkchen und Kluntje. Und die Waffeln mit heißen Kirschen und Vanilleeis sind ein Gedicht!

Der letzte Tag

Die zwei Wochen Auszeit sind wie im Flug vergangen. Noch ein letzter Rundgang. Beim Spaziergang am Meeressaum entlang höre ich bei jedem Schritt das Zerbrechen der Muscheln, das sich wie das Brechen feiner Knöchelchen anhört, und weiche den heranrollenden Wellen aus.
Einige ältere Damen stehen längere Zeit regungslos auf den Holzplanken, die zum Strand hinunterführen, ich wunderte mich, warum sie nicht weitergehen, da sagt jemand: "Die nehmen Abschied."


Da bleibe auch ich stehen und versuche, mir diesen unvergleichlichen Blick übers Meer einzuprägen, damit ich ihn später zu Hause abrufen kann, wann immer ich möchte.
Auf dem Rückweg esse ich im MatjesHaus eine sehr gute Juister Fischsuppe.

Abschied

Ich steige in die Frisia ein. Viele Ideen haben sich in meinem Kopf gesammelt. Aus manchen werden sicher Geschichten. Beim Auslaufen erklingt das Akkordeonstück Biscaya, eine Melodie, in die die Schwingungen des Meeres und der Klang der Wellen eingefangen sind.
Juist - ich komme wieder!

 

Ich danke meiner Kollegin Mara Laue für das Überlassen und Einstellen einiger Fotos.