Etretat in der Haute Normandie

 

Kreidefelsen prägen das Bild von Etretat. Die kleine Stadt am Ärmelkanal in der Nähe von Le Havre war einst ein Fischerdorf, doch Fischer gibt es dort schon lange keine mehr. Weniger als zwei Stunden von Paris entfernt, ist Etretat ein Touristenort, der noch viel Ursprüngliches zu bieten hat: An der wilden Côte d´Albâtre, über die raue Winde wehen, hat das salzige Wasser bizarre Skulpturen in die Felsen gemeißelt. Am Kiesstrand stellten Maler ihre Staffeleien auf, darunter auch Delacroix, Gustave Courbet und Claude Monet. Viele der Bilder mit Motiven dieser maritimen Erosionen befinden sich heute im Pariser Musée d´Orsay.

Die Deutschen haben in dem malerischen Küstenort eher unrühmliche Zeugnisse hinterlassen: Ein Bunker des Atlantikwalls am Fuße der Failaises d’Aval weist auf die dunkle Vergangenheit während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg hin.

Wir haben uns in einem älteren Haus mit viel Atmosphäre mitten im Ort einquartiert und werden von dem aufmerksamen Hausherrn umsorgt. Das Frühstück ist köstlich und mit viel Liebe zubereitet. Gestärkt treten wir unseren Marsch über die windumtosten Klippen an und schauen hinunter auf die aufgewühlte See. Vorsicht ist geboten, denn hier ist es ganz leicht, abzustürzen. Nirgends ist ein Gatter oder Geländer, an dem man sich festhalten könnte.

"Manneporte" und "Porte d´Aval" heißen die imposanten Naturdenkmäler, die aus dem Meer ragen. Oder: "L´Aiguille creuse", "Die hohle Nadel", die der Schriftsteller Maurice Leblanc, der Schöpfer des legendären Gentleman-Diebes Arsène Lupin, in einem Buch mit diesem Titel verewigte. In dem Roman geht es um ein Geheimnis, das diese achtzig Meter hohe Felsnadel birgt.

Mehr über Maurice Leblanc erfahren wir in Le Clos Arsène Lupin, einem Museum in der Rue Guy de Maupassant. In  dieser im anglonormannischen Stil erbauten Villa, die schon zu Lebzeiten des Autors die Touristen anzog, lebte er zwanzig Jahre lang Anfang des letzten Jahrhunderts.

Wir steigen Treppen hoch und gehen durch die Räume, die vom Leben und Arbeiten des Schriftstellers zeugen. Während des szenischen Rundgangs erfahren wir, welche Abenteuer sich der Autor hier für seinen berühmten Sherlock-Holmes-ähnlichen Protagonisten ausdachte, der jedoch auf der anderen Seite des Gesetzes agierte. Die Bücher über den Meisterdieb Arsène Lupin wurden in mehr als fünfundzwanzig Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Für seine Verdienste um die französische Literatur erhielt sein Erfinder den Orden der Legion d’honneur.

Auch der Schriftsteller Guy de Maupassant, nach dem die Straße benannt ist, in der das Lupin-Museum steht, hat viele Jahre an der Alabasterküste verbracht. Die Beschreibung der unvergleichlichen Landschaft hat Eingang in etliche seiner Erzählungen und Novellen gefunden.

Während Maurice Leblanc die Polizei in seinen Romanen als relativ unfähig darstellt, schreibt sein Schriftstellerkollege Georges Simenon seinem Kommissar Maigret außergewöhnliche kombinatorische Fähigkeiten zu. Für einen seiner zahlreichen Romane hat er ebenfalls das malerische Etretat als Schauplatz auserkoren. In "Maigret und die alte Dame" fährt der Kommissar in die Normandie, um den Mord an einem Dienstmädchen aufzuklären. "Etretat mit seinen hübschen, blitzsauberen Häuschen wirkte so freundlich und unschuldig, dass es als Hintergrund einer Tragödie so gar nicht geschaffen schien." Man ahnt, dass es dennoch recht tragisch zugehen wird. Obwohl der Kommissar ordentlich dem Calvados zuspricht, der ihn bisweilen ziemlich benebelt, löst er den Fall auf seine gewohnte Weise. "Maigret trank einen Calvados, weil er nun einmal in der Normandie war, wo sich das gehörte."

"Essen ist das zweit Wichtigste im Leben" - so lautet ein Zitat von Guy de Maupassant. Man bezieht sich gern auf seine Schriftsteller in Etretat. Le Clos Lupin, so heißt nicht nur das Museum, sondern auch ein Restaurant in der Rue Alphonse Karr (ebenfalls ein Schriftsteller), denn natürlich weiß man auch in Etretat gut zu essen und zu trinken. Davon konnten wir uns überzeugen.