Die Brontë-Schwestern in Howarth/Yorkshire

Tagträumerei als Lebensersatz

  Die Bronze Statue der Schwestern im Garten

Seit meinem Studium fasziniert mich das Leben der drei Brontë-Schwestern, die im 19. Jahrhundert mit ihren ungewöhnlichen Schriften die literarische Welt in Staunen versetzten: Charlotte, Emily und Anne. Zusammen bilden sie die berühmteste Literaten-Familie der Welt, die viele Autoren inspiriert haben. Ihre Romane und auch ihr Leben wurden vielfach verfilmt, u.a. 1979 mit Isabelle Adjani als Emily und Isabelle Huppert als Anne.

Während ihr wirkliches Leben relativ ereignislos verlief, erfanden sie sich eine aufregende Tagtraumwelt voller leidenschaftlicher Helden.

Howarth heute

Das Städtchen Howarth liegt unweit von Leeds inmitten einer von Steinmauern durchzogenen Moorlandschaft. Kaum vorstellbar, dass dieses heute so belebte Städtchen, das alljährlich Tausende von Literaturtouristen anzieht, in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein äußerst unangenehmer Ort mit katastrophalen sanitären Verhältnissen war. Die Kindersterblichkeit war so hoch wie die der Londoner Slums. Zwei ältere Schwestern sind früh verstorben.

Yorkshire

Es ist mein zweiter Besuch in der Brontë Parsonage in Howarth/Grafschaft Yorkshire. Der erste liegt über 30 Jahre zurück und doch ist mir vieles noch gegenwärtig. Das Pfarrhaus steht direkt neben der Kirche St. Michael.

Das Pfarrhaus: Parsonage

Die Grabsteine des Friedhofs konnte man vom Wohnzimmer aus sehen. Der Tod war allgegenwärtig und der Gestank, der aus dem Gräbern drang, soll unerträglich gewesen sein.

Der Friedhof direkt vorm Haus

Auch an die Schule daneben, die alle Brontë-Kinder besuchten, kann ich mich erinnern.

Diesmal bin ich mit der Freundin hier auf literarischer Spurensuche - wir kennen uns seit über 40 Jahren, haben zusammen studiert und schon viele Reisen miteinander unternommen.

An diesem sonnigen Sommertag können wir uns nicht vorstellen, dass das so liebevoll mit vielen Details ausgestattete hell wirkende Pfarrhaus früher karg und dunkel gewesen sein soll. Reverend Patrick Brontë, der seine Kinder allein großzog, weil seine Frau früh verstorben war, hatte keinen Sinn für Dekoratives, heißt es.

Das Zimmer des Vaters

Aufgewachsen in dem düsteren Pfarrhaus, hatten die Geschwister kaum Kontakt zur Außenwelt oder zu anderen Kindern. Sie galten als seltsam und weltfremd. Aber sie waren hochtalentiert und durften uneingeschränkt die Bibliothek ihres Vaters benutzen. So erträumten sie sich ihre eigene phantastische Welt voller Sehnsüchte und Freiheitsgedanken.

Zusammen mit dem Bruder Banwell erfanden die Schwestern ganze Königreiche, Gedankenspiele, die sie mit winzigen Buchstaben aufs Papier bannten. Abgeschottet von der Wirklichkeit woben sie ihre Tagtraumwelt. Abends im Wohnzimmer beim Flackern des Kaminfeuers und beim Schein einer Petroleumlampe erweckten sie erfundene Figuren zum Leben.

Jedes der Kinder hatte ein eigenes Schreibpult

Eingebunden in die restriktiven viktorianischen Traditionen entwickelten alle drei Schwestern einen
Drang zu freiheitlichem Denken. Der einzige Beruf, der Frauen damals möglich war, war der der Gouvernante oder Lehrerin. Sie versuchten redlich, diese Erwartung zu erfüllen. Doch keiner der Schwestern sagte diese Berufsaussicht zu. Alle sehnten sich nach einem selbstbestimmten Leben.

Auch Bruder Patrick Branwell hatte viele Talente, er schrieb und malte. Einige seiner Portraits sind im Museum ausgestellt. Eines seiner berühmtesten Gemälde zeigt ein Gruppenbild der vier Geschwister, aus dem er sich selbst wieder entfernt hat.

Branwell kam mit dem Leben nicht klar. Häufig war er zu Gast im "Black Bull".

Inschrift am Hotel "Black Bull"

Auch wir besuchen den Traditionspub und gönnen uns ein Mittagessen mit Yorkshirepudding.

Patrick Branwells Zimmer im Museum soll seinen schwierigen Charakter widerspiegeln. Er trank viel und er nahm Opium.

  Patrick Branwells Zimmer

Die Schwestern schrieben Gedichte und unkonventionelle Romane voller Leidenschaft, wie man sie zu ihrer Zeit niemals von Pfarrerstöchtern erwartet hätte. Sie erfanden für sich die (männlich klingenden) Pseudonyme Currer, Ellis und Acton Bell.

Ihr Leben währte nur kurz. Ihre Literatur aber bleibt und fasziniert noch immer Millionen. Die Romane sind voller stolzer Frauen und Männer, wilden und leidenschaftlichen Charakteren, denen der Tod nichts anhaben kann. Es geht um obsessive Liebe und Eifersucht, um Bigotterie und Klassendenken. Wuthering Heights/Sturmhöhe von Emily und Jane Eyre von Charlotte wurden mehrfach verfilmt.

Emily starb 1848 mit nur 30 Jahren - drei Monate nach dem Tod ihres Bruders. Auch Anne starb an der "Familienkrankheit" Tuberkulose. Die einzige, die etwas länger lebte, war Charlotte. Sie heiratete spät und starb während ihrer ersten Schwangerschaft. Charlotte hinterließ der Welt die meisten Romane. Aus dem einfachen Grund, weil sie länger lebte. Mit 38 Jahren, kurz vor ihrem Tod, heiratete sie Arthur Bell Nicholls. Emily und Charlotte wurden in der Kirche St. Michaels nahe ihrem Elternhaus beigesetzt.

In der Kirche St. Michaels

Der Vater, Patrick Brontë, überlebte alle seine Kinder und starb 84jährig im Jahr 1871.

"Das reale Ereignis verschwindet hinter dem Tagtraum", schrieb einst Sibylle Cramer in der "Zeit" über die "taubengrauen Schwestern", wie Arno Schmidt die Brontës nannte. "Der Roman (Wuthering Heights) war fremd in seiner Zeit. Kein Wunder, seine Verfasserin lebte in ihr, ohne zu ihr zu gehören."

Das Manuskript Wuthering Heights

Dieser Interpretation folgt auch die neueste Brontë-Verfilmung Emily (2022),  die sich viele dramaturgische und historische Freiheiten und teils gewagte Interpretationen herausnimmt. Zwar hat der attraktive Hauslehrer William Weightman - in den Emily sich angeblich verliebt hat - tatsächlich existiert. Elsemarie Maletzke beschreibt ihn in der Biografie Das Leben der Brontës als "Filou", der viele und rasch wechselnde Damen verehrte. Verbürgt ist lediglich, dass Anne heimlich in ihn verliebt war - ohne dass er dies jemals erfuhr. Im Film wird auch eine besonders innige Beziehung von Emily zu ihrem Bruder angedeutet - auch das ist reine Interpretation.

Emilys Kunst gehört zu den großen Rätseln der Literatur. Viele Biographen fragen sich: Woher nahm sie all diese Wildheit und Leidenschaft? War es pure Imagination oder erlebte sie tatsächlich eine solche Liebesbeziehung? Da sie der Nachwelt kaum persönliche Notizen hinterlassen hat, kann dies niemand beantworten.

Die Freundin und ich haben uns den Film Emily im Anschluss an den Besuch in der Parsonage angesehen. Auch wenn der Inhalt in vielem nicht den historischen Überlieferungen entspricht, so finden wir seine Bildsprache äußerst gelungen. Kulissen und Kostüme beeindrucken. Von der mystischen Landschaft, die wir gerade durchstreift haben, geht ein magischer Zauber aus.

Das Kleid, das die Schauspielerin in Emily trägt, ist in der Parsonage ausgestellt.

  Emilys Kleid

Bis heute lässt sich die Nachwelt von den Geschichten der Brontë-Schwestern verzaubern, die weiter leben in Büchern und Filmen. Viele Literaten in aller Welt haben sich durch ihre leidenschaftlichen Geschichten und deren starke, unvergessliche Charaktere inspirieren lassen. Jean Rhys hat auf kluge Weise in Die weite Sargassosee (Neuübersetzung von Sargassomeer) die Vorgeschichte der "Verrückten auf dem Dachboden" ersonnen, die das Haus von Edward Rochester in Jane Eyre angezündet hat ... Kate Bush ließ sich von Wuthering Heights zu ihrem gleichnamigen Hit inspirieren. Auch ein Musical, in dem Cliff Richard den Heathcliff gab, war erfolgreich. Der Sänger führte eindringlich vor, wie Sehnsucht zu Zerstörung und Wahnsinn führt.

Auch die Komikertruppe Monty Python haben diese Liebesgeschichte parodiert. Die englische Autorin Joan Aiken hat Charlottes Roman Der Professor weiterentwickelt. Ihr Roman heißt Das Mädchen aus Paris. Die Amerikanerin Elizabeth George, deren Krimis in England spielen, hat sich in Gott schütze dieses Haus die Landschaft der Hochmoore Yorkshires zum Vorbild genommen ... und ... und ... und...

"Sie lebten in einer von ihnen erschaffenen, unabhängigen Welt, in die wir eintreten dürfen", schrieb einst Virginia Woolf.

"Hilft die Kenntnis der Lebensumstände beim Erschließen des Werks, oder ist die einzig wahre Begegnung zwischen Dichter und Leser die Lektüre selbst?", fragt Elsemarie Maletztke im Nachwort ihrer Biografie über das Leben der Schwestern. Und zieht das Resümee: "Man muss sie nicht gesehen haben, um ihre Bücher zu lieben. Die Sturmhöhe erschließt sich auch ohne eine Pilgerreise über das Moor. Es handelt sich um Literatur, nicht um Heimatkunde.
Auch ihre Persönlichkeiten werden im Anblick dieser Nähkästchen und Teetassen diffuser statt deutlicher. Was war das für ein Geist, der solche Dinge entstehen ließ wie die Armbänder aus dem Haar der toten Schwestern? Wir werden es wohl nicht verstehen ... Wer wollte sich erkühnen, den ganzen Menschen gefangen zu haben?"